100 Prozent TQ…

… immer neu, immer er selbst!

Im Januar 2012 hat Thomas Quasthoff sich als klassischer Sänger von der Bühne zurückgezogen. Das geschah für viele unerwartet, auch für ihn selbst sehr plötzlich – aber konsequent. „Ich war dem hohen Anspruch, den ich an meine künstlerische Arbeit stelle, nicht mehr gerecht und habe deshalb meine Managerin gebeten, alle folgenden Konzerttermine abzusagen.“ Der Tod seines Bruders habe ihn in eine Art Schockstarre versetzt, erinnert sich Thomas Quasthoff. Das geflügelte Wort habe seine Berechtigung. Die Kehle war wie zugeschnürt, Trauer macht stumm. „Ich habe mit Michael meine liebste und größte Vertrauensperson verloren, im Künstlerischen wie im Menschlichen.“

Es folgte eine Zeit, die Thomas Quasthoff heute als hart, aber wegweisend bezeichnet. Eine Zeit der Reflektion, auch des künstlerischen Experimentierens auf dem Weg in ein immer geliebtes, aber bis dahin nicht selbst ausgeübtes künstlerisches Genre. Thomas Quasthoff entwickelte sich zum Jazzsänger

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„Ich habe ein neues Instrument gelernt, das heißt Mikrofon. Ich habe gelernt, damit Klangfarben zu erzeugen, indem ich zum Beispiel ganz nah herangehe und einen weichen Balladensound erzeuge. Eine ganz neue Intimität ist damit für mich möglich, und darin gewinne ich immer mehr Sicherheit. Dafür muss man die Intonation stärker kontrollieren, was man mit einem Klavier und selbst mit einem großen Orchester nicht muss. Meine Stimme hat sich längst vollständig erholt, ich fühle mich wohl. Mittlerweile erreiche ich auch Höhen, in denen meine Stimme für eine Weile nicht so gut angesprochen hat. Das macht mich sehr zufrieden.“

Thomas Quasthoffs Bühnenpartner sind der Jazzpianist Simon Oslender, der Kontrabassist Dieter Illg und der Schlagzeuger Wolfgang Haffner. Sie schätzen Quasthoffs unbedingte Musikalität. Und er schätzt die ihre.

„Wir sind befreundet, und das macht es so toll. Das Allerschönste dabei ist: Jeder freut sich, wenn dem anderen etwas Tolles gelingt. Damit ist immer mehr Freiheit möglich, ich fühle nicht mehr die Strenge des klassischen Konzertes. Im Grunde genommen habe ich mich selbst von einem Kunstsockel heruntergeholt. Das schönste Kompliment ist für mich, wenn ich höre: ‚Da singt nicht ein klassischer Sänger, der Jazz macht, sondern ein Jazzsänger.‘ Anders als bei einem Liederabend fühle ich mich nicht als Zentralfigur des Abends, sondern als einer von vier Mitmusikern.“

„Eines meiner Lieblingsstücke ist ‚One for My Baby‘. Da sitzt ein Typ an der Bar und sagt dem Barkeeper: ‚Hör mal zu, mir geht es schlecht. Meine Freundin hat mich verlassen. Deshalb spendiere ich jetzt eine Runde für sie und dann noch eine weitere für den Weg, den ich ab jetzt gehen werde.‘ Wenn es ein klassisches Lied wäre, würde es die Situation nur beschreiben. Im Jazz kann ich dagegen alle Emotionen des Menschen in die Stimme legen, der da singt. Innerhalb desselben Satzes höre ich dann tausendmal mehr, wie es dem Typen da an der Theke geht. Schon in Schuberts Winterreise oder Bachs Matthäuspassion wollte ich nicht nur interpretieren, sondern der Müllerbursche sein und ‚Mache Dich, mein Herze, rein‘ als Fürbitte wirklich direkt an Jesus adressieren. Im Jazz kann ich noch darüber hinaus gestalten. In der Klassik singe ich genau, was da steht, mit der exakten Notenlänge. Wenn ich bei ‚Summertime‘ Lust habe, dann dehne ich den Ton, „you spread your wings“ und erzeuge wirklich das Bild, dass da jemand seine Schwingen ausbreitet. Wie im Jazz völlig frei zu gestalten, ist in der Klassik verboten. Der klassische Künstler singt zwar seine eigene Interpretation, aber nie in freier Gestaltung, sondern höchstens so wie er denkt, dass es künstlerisch gemeint ist.“

Auch in Lesungen entdeckt Thomas Quasthoff einen weiteren Facettenfundus für ihn als Vortragenden. Gedichte von Heinrich Heine, Briefe von Goethe oder Mendelssohn, kürzlich ein wiederentdecktes Tagebuch von Johann Andreas Silbermann, der seinen Onkel, den berühmten Orgelbauer Gottfried Silbermann, im 18. Jahrhundert auf Reisen begleitete. Das Gesungene und die Sprachmelodie sind für ihn beides Formen von Musik.

„Ich beschäftige mich gern mit allem, was mit Sprache zu tun hat und mit meiner Stimme, mit der ich gern experimentiere. Es reicht nicht zu sagen, dass ich gern Musik mache, sondern ich würde sagen, dass 75 oder 80 Prozent meines Wohlbefindens von der Musik abhängt. Schon morgens beim Duschen mache ich Gesangsübungen oder summe irgendeine Melodie vor mich hin. Das war schon als Kind so. Vielen meiner Studierenden würde ich das wünschen, 100-prozentig das zu leben, was einem geschenkt worden ist.“

An der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin hat Thomas Quasthoff nach wie vor eine Gesangsprofessur.

„Mir ist es wichtig, mündige, kundige Sänger auszubilden, die sich ihre Stimme selbst erarbeiten. Ich möchte nicht der allwissende Guru sein, der die junge Sängerin oder den jungen Sänger behütet und abschirmt. Das habe ich selbst so erlebt und mich davon befreit. Als ich den ARD-Wettbewerb 1988 gewonnen hatte, hätten sich mir gewiss noch mehr Türen geöffnet, wenn ich anschließend zum Beispiel zu Dietrich Fischer-Dieskau gegangen wäre. Das wollte ich aber nicht, denn ich finde, jedem, der bei ihm studiert hat, hört man das auch an. Ich wollte stattdessen wie ich klingen. Auch heute singe ich nicht wie Frank Sinatra, Bing Crosby oder Curtis Stigers. Manchmal füge ich eine solche typische Färbung als Stilmittel ein, aber mich interessiert, deren Lieder so zu singen, wie ich sie in dem Augenblick fühle. Im Jazz finde ich noch andere, freiere Gestaltungsmöglichkeiten. Eine Tempoangabe zum Beispiel ist im Jazz immer nur als Richtlinie zu verstehen. Das ist für einen Sänger ein riesiges Geschenk. Der Weg, den ich gegangen bin, also mich aus einer Musiksparte selbst herauszuziehen und mir in einer anderen dieselbe Klasse zu erarbeiten, ist eine tolle Erfahrung.“

Sein 65. Geburtstag liegt noch weit voraus, doch Thomas Quasthoff blickt auch in Verbindung mit einem weiteren Meilenstein seiner Karriere darauf.

„Dann stehe ich nämlich seit 50 Jahren auf der Bühne. Das auch von dort aus zu erleben, wäre schon cool.“